Rund vier Wochen nach der Tötung ihres Anführers Hassan Nasrallah hat die Hisbollah-Miliz im Libanon einen Nachfolger ernannt. Neuer Generalsekretär werde der bisherige Vize-Chef Naim Kassim, teilte die Organisation mit. Am aktuellen Verlauf des Kriegs mit Israel dürfte sich mit der Ernennung aber wenig ändern. Er gilt als vergleichsweise schwach und dürfte an das Erbe Nasrallahs als Anführer kaum heranreichen. Die Miliz kündigte an, die bisherigen Ziele unter dem neuen Anführer weiterzuverfolgen «bis zum Sieg».
International gab es unterdessen scharfe Kritik am Arbeitsverbot Israels gegen das Palästinenserhilfswerk UNRWA, mit dem der Organisation die Tätigkeit auf israelischem Staatsgebiet untersagt wird. Das israelische Parlament hatte den umstrittenen Gesetzentwurf mit riesiger Mehrheit gebilligt. UNRWA kann seine wichtigen Einsätze damit auch in den Palästinensergebieten samt dem Gazastreifen kaum fortsetzen kann, weil Israel die Grenzübergänge kontrolliert.
Die Umsetzung der Gesetzesentwürfe «könnte verheerende Folgen für die palästinensischen Flüchtlinge in den besetzten palästinensischen Gebieten haben, was nicht hinnehmbar ist» erklärte UN-Generalsekretär António Guterres. «Diese Gesetzesentwürfe werden das Leiden der Palästinenser nur noch verschlimmern, insbesondere in Gaza, wo die Menschen seit mehr als einem Jahr durch die Hölle gehen», schrieb UNRWA-Leiter Philippe Lazzarini bei X.
Der Schura-Rat habe sich auf die Wahl Kassims für den Posten geeinigt entsprechend dem «anerkannten Verfahren für die Wahl des Generalsekretärs», teilte die Schiiten-Miliz mit. Kassim führe nun die Hisbollah und den Islamischen Widerstand in «edler Mission» an.
Israels Armee hatte den früheren Anführer Nasrallah Ende September bei einem Luftangriff in einem südlichen Vorort von Beirut getötet. Als möglicher Nachfolger galt seitdem vor allem Haschim Safi al-Din, Chef des Hisbollah-Exekutivrats. Dieser wurde aber ebenfalls bei einem israelischen Luftangriff getötet, womit die Frage der Nachfolge erneut offen war.
Kassim stammt aus einem Dorf nahe Nabatija im südlichen Libanon, lebte die meiste Zeit seines Lebens im Raum Beirut und ist etwa 70 Jahre alt. Der schiitische Kleriker schloss sich zunächst der Amal-Bewegung an und gehörte dann wie Nasrallah zu den ersten Mitgliedern der 1982 gegründeten Hisbollah. Seit 1991 war er Vize-Chef und damit eine der einflussreichsten Figuren innerhalb der Organisation neben Nasrallah. Kassim ist verheiratet und hat sechs Kinder.
Seinen Unterstützern wurde Kassim zuletzt durch mehrere Reden bekannt, die im Fernsehen übertragen wurden. Seit der Tötung Nasrallahs wurde er damit zum nun prominentesten Gesicht der Hisbollah nach außen. Wo er sich aktuell aufhält, ist unklar.
Israels Verteidigungsminister Joav Gallant schrieb bei X zu einem Foto Kassims, dieser sei als neuer Chef nur «befristet angestellt» und «nicht für lange Zeit» – offenbar in Anspielung darauf, dass Israels Armee auch diesen Hisbollah-Chef töten könnte.
In seinen Äußerungen erweckt Kassim den Eindruck eines Hardliners. Anders als Nasrallah wird er aber nicht als starker Kommandeur gesehen, der Kämpfer gegen Israel anführen kann. Mohanad Hage Ali, der beim Carnegie Middle East Center zur Hisbollah forscht, beschrieb Kassim als «Bildungs-Figur» und als jemand, der gute Reden halten könne. An die «begeisternde Kraft» Nasrallahs bei den Hisbollah-Anhängern reiche er aber nicht heran, sagte Hage Ali der dpa. Während Nasrallah aus ärmlichen Verhältnissen kam, stammt Kassim aus einer Mittelschichtsfamilie.
Am Verlauf des Kriegs dürfte sich durch den Wechsel an der Hisbollah-Spitze wenig ändern, denn die verschiedenen Flügel der Miliz handeln weitgehend unabhängig und dezentral. Auch deshalb setzte sie ihre Angriffe gegen Israel auch ohne Anführer Nasrallah fort. Kassim dürfte nun vor allem die großen Ziele neu abstecken, darunter auch die Bedingungen für eine mögliche Waffenruhe mit Israel, und versuchen, die Kampfmoral innerhalb der Miliz zu stärken. Diese hat seit Mitte September zahlreiche empfindliche Treffer durch das israelische Militär einstecken müssen.
Der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel ging während der Nachricht über den neuen Milizenführer unvermindert weiter. Israels Luftwaffe flog im Osten des Libanon über 24 Stunden die dort mitunter schwersten Angriffe seit Kriegsbeginn vor einem Jahr. Mindestens 60 Menschen wurden dort getötet und etwa 60 weitere verletzt, wie das libanesische Gesundheitsministerium mitteilte. In Videos in sozialen Medien waren viele zerstörte Gebäude in der Region zu sehen, aus der Tausende Familien inzwischen geflohen sind.
Die Hisbollah erklärte, sie habe mit Kampfdrohnen und Raketen erneut Ziele in Israel sowie mit Drohnen auch israelische Truppen im Libanon angegriffen. Israels Truppen rückten dabei weiter in libanesisches Gebiet vor. Die Hisbollah habe dabei auch israelische Soldaten südlich von Chiam mit Raketen angegriffen, darunter auch einen israelischen Panzer.
Israel hat seine Luftangriffe im Libanon seit September massiv ausgeweitet – und dabei auch die Führungsriege der Hisbollah mehrfach gezielt angegriffen. Zudem marschierten israelische Truppen im vergangenen Monat im Südlibanon ein. Diese liefern sich schwere Gefechte mit der Hisbollah im Raum Chiam, das im nördlichen Teil des Grenzgebiets mit Israel liegt. Dort sei schweres Gewehrfeuer und Artilleriebeschuss zu hören, berichteten Augenzeugen.
Der Staatsagentur NNA zufolge ist Israel dorthin auch mit einer «großen Zahl an Panzern» vorgerückt. Auch ein Bulldozer des israelischen Militärs – mutmaßlich zur Zerstörung von Häusern im Libanon – soll nahe Chiam stationiert sein.
Die Hisbollah greift vor allem den Norden Israels seit gut einem Jahr fast täglich mit Raketen und Drohnen an. Die proiranische Miliz unterstützt dabei nach eigenen Angaben die islamistische Hamas, gegen die Israel im Gazastreifen Krieg führt. Das Gesundheitsministerium in Beirut zählt seit Beginn des aktuellen Kriegs zwischen Israel und der Hisbollah vor einem Jahr mehr als 2.600 Tote und rund 12.400 Verletzte im Libanon.
Quelle: dpa