Bundeskanzler Olaf Scholz macht erst einmal weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Als er am Freitagmorgen hoch über der Donau auf der Dachterrasse seines Hotels vor der Kulisse der Budaer Burg vor die Kameras tritt, sieht er zwar noch etwas mitgenommen vom Ampel-Crash in Berlin aus. Aber das Programm des EU-Gipfels spult er routiniert wie immer ab.
Es gehe um den Wahlsieg Trumps, Europa müsse jetzt enger zusammenrücken, seine Wettbewerbsfähigkeit stärken, sagte Scholz. Zwei Minuten und 40 Sekunden, keine Fragen, dann geht’s ins Puskas-Stadion zu den Beratungen mit den anderen 27 Staats- und Regierungschefs der EU.
Scholz ist wegen der Regierungs-Turbulenzen mit Verspätung in der ungarischen Hauptstadt Budapest eingetroffen. Den vorgeschalteten Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat er wegen der Turbulenzen in Berlin geschwänzt. Am Donnerstag musste er ja noch die notdürftigen Reparaturen an seiner geplatzten Regierung finalisieren und kam erst zum Abendessen, wo die labile Situation in Deutschlands zumindest am Rande Thema war.
Scholz habe geschwächt gewirkt, sagt ein Diplomat, der dabei war. Das internationale Medienecho auf den Ampel-Crash war angesichts der fragilen weltpolitischen Lage von Beunruhigung geprägt. Ausgerechnet an dem Tag, an dem in den USA Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird, zerlegt sich die Regierung der größten europäischen Volkswirtschaft selbst, so der Tenor. «Gestern Abend ist Deutschland politisch zur lame duck, zur lahmen Ente, geworden, mit einer Regierung, die wahrscheinlich nicht regierungsfähig ist und deren Schicksal besiegelt scheint», schrieb etwa die italienische «La Stampa» nach dem denkwürdigen Mittwochabend, an dem die Regierungskoalition zerbrach.
Aber sind die Auswirkungen auf die Rolle und das Ansehen in der Welt wirklich so dramatisch? Scholz regiert mit einer rot-grünen Minderheitsregierung weiter und kann ohne die Opposition keine Gesetze mehr beschließen. Für das außenpolitische Tagesgeschäft braucht Scholz aber keine Mehrheit im Parlament. Seine Regierung kann etwa Migrationsabkommen mit anderen Ländern beschließen, Waffenlieferungen an Israel genehmigen oder die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland in die Wege leiten, ohne den Bundestag zu fragen.
Wenn es ums Geld geht, ist ohne das Parlament allerdings nichts möglich – also wenn es zum Beispiel um zusätzliche Milliarden für die Ukraine geht. Dafür wollte Scholz in den Ampel-Verhandlungen zuletzt erneut die Schuldenbremse aussetzen. Am Ende zerbrach die Koalition.
Bei der EU in Brüssel und in etlichen Hauptstädten anderer Mitgliedstaaten hält sich das Bedauern über das Ampel-Aus in Grenzen. In den vergangenen drei Jahren war man dort oft frustriert darüber, dass sich Deutschland zu wichtigen Themen erst nach langen internen Diskussionen zwischen den Regierungsparteien SPD, FDP und Grünen positionieren konnte – oder am Ende überhaupt nicht.
Das machte schnelle Fortschritte bei EU-Projekten schwer, wie zum Beispiel bei der großen Asylreform, dem Lieferkettenkettengesetz oder strengeren Klimaschutz-Auflagen für die Autoindustrie. «German Vote» heißt es in Brüssel etwas abfällig, wenn sich Deutschland wegen Streitigkeiten in der Koalition bei Abstimmung enthält.
Dementsprechend offen wird nun von konservativen europäischen Spitzenpolitikern Druck auf Scholz gemacht, eine lange Hängepartie zu vermeiden. «Ich rufe zu politischer Stabilität auf und appelliere an alle Akteure, verantwortungsvoll zu handeln», sagte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in Budapest. «Europa ist nicht stark ohne ein starkes Deutschland. Das ist wichtig für uns.» Staats- und Regierungschefs äußerten sich ähnlich. «Ich hoffe (…) auf eine deutsche Lösung, so schnell wie möglich», sagte Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson. Innenpolitische Turbulenzen seien in jedem Land problematisch.
Im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten, wird Scholz schon seit längerem nicht nur von konservativen Politikern kritisch gesehen. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Angela Merkel von der CDU galt Scholz bei schwierigen Themen nicht als der große Brückenbauer.
Die Kanzlerin hatte sich nach Angaben von Diplomaten oft sehr viel Zeit genommen, um auch kleinere Mitgliedstaaten bei gemeinsam mit Frankreich angestoßen Entscheidungsprozessen mitzunehmen. Scholz war dafür nicht bekannt, eher dafür, teilweise eher undiplomatisch und direkt seine Position vorzutragen.
Auch das Verhältnis des Kanzlers zu Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird von Gipfelteilnehmern regelmäßig als schwierig und wenig konstruktiv beschrieben. Von einem starken «deutsch-französischen Motor» für europäische Projekte könne keine Rede sein, heißt es in Brüssel – auch wenn Scholz und Macron gerne das Gegenteil behaupteten.
Das Ampel-Aus weckt in Brüssel nun die Hoffnung, dass große EU-Projekte wie eine weitere Verschärfung des Asylsystems und die Aufstellung des nächsten langfristigen Gemeinschaftshaushalts deutlich früher angepackt werden können als gedacht.
Wegen der Streitigkeiten in der deutschen Regierung galt es als sehr wahrscheinlich, dass die zuständige EU-Kommission konkrete Vorschläge erst nach der nächsten Bundestagswahl macht – also nach ursprünglicher Erwartung erst im Spätherbst oder Winter des kommenden Jahres.
Im Fall von Neuwahlen könnten Schlüsselprojekte nun schon im Frühsommer angegangen werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kann zudem darauf hoffen, dass mit Friedrich Merz ein Parteifreund neuer Kanzler in Deutschland wird.
Nach dem Scholz-Plan wird das aber noch eine Weile dauern. Er will die Vertrauensfrage nach jetzigem Stand erst am 15. Januar stellen – fünf Tage bevor Trump ins Weiße Haus zurückkehrt. Was dann passiert, weiß noch niemand. Aussetzung der Ukraine-Hilfe? Friedensgespräche mit Putin? Handelskrieg mit der EU? Wie verhält er sich gegenüber China?
Europa wird darauf reagieren müssen und mit Deutschland wäre das größte und bevölkerungsreichste Land mit einer Regierung ohne Rückhalt des Parlaments politisch nur noch bedingt handlungsfähig. Scholz würde dann tatsächlich als «lame duck» gelten und das Land hätte die heiße Wahlkampfphase vor sich.
Der wahrscheinlichste Wahltermin wäre der 30. März. Sollte Scholz die Wahl verlieren, könnte er nach Konstituierung des neuen Bundestags als dann nur noch geschäftsführender Kanzler wichtige Entscheidungen ohne Absprachen mit seinem Nachfolger gar nicht mehr treffen. So ist es jedenfalls üblich. Die Koalitionsverhandlungen könnten ein bis zwei Monate dauern oder auch noch länger. Dann landet man ganz schnell im Mai oder Juni.
Die Opposition macht deswegen Druck, den Termin vorzuziehen. Sie strebt den 19. Januar an, den Tag vor der Trump-Vereidigung. Am Ende des EU-Gipfels zeigte Scholz sich überraschend verhandlungsbereit. Gemeinsam mit einer Einigung im Bundestag darüber, welche Gesetze noch beschlossen werden sollen, könne man auch über den Termin für die Neuwahl sprechen. «Für mich ist das so, dass wir hier ein großes demokratisches Fest haben, und das gelingt am besten, wenn alle gemeinsam zur Party schreiten», sagte er.
Quelle: dpa